Interreligiöser Dialog | Migration und Integration

Religion und Integration: Die Gemeinschaft hilft, Fuss zu fassen

Die eritreisch-orthodoxe Kirche gibt Flüchtlingen viel Halt. Die Solidarität ist aber nicht nur innerhalb dieser Religionsgemeinschaft gross. Erlebbar wird die Vielfalt der Religionen im Raum Luzern an der Veranstaltung «Unter einem Dach». Sie findet am 26. September zum 4. Mal in der Kornschütte in Luzern statt.
«Wir erfahren viel Unterstützung»: Mengs Zaid und Ariam Nuguse vor dem Altar der St. Karli-Kirche in Luzern. | © 2019 Martin Dominik Zemp

Ariam Nuguse (23) lebt seit acht Jahren in der Schweiz, ihr Kollege Mengs Zaid (22) kam 2014 hier an. Wie alle anderen Landsleute auch flüchteten sie vor dem eritreischen autoritären Regime, das seine Bevölkerung zum Militärdienst zwingt und den Betroffenen jegliche Hoffnung auf ein normales Leben nimmt – oft stecken hinter dem schönfärberischen Begriff des Militärdienstes» nämlich Versklavung und Folter.

Berufslehren in der Schweiz

Hier in der Schweiz haben sie wieder eine Perspektive. Nuguse, die heute perfekt Schweizerdeutsch spricht und in Kriens lebt, konnte eine Lehre als Assistentin Gesundheit und Soziales absolvieren und arbeitet heute in einem Altersheim in Malters. Bald lässt sie sich zur Fachangestellten Gesundheit weiterbilden. Zaid, der in Emmenbrücke wohnt, startete nach einem Deutschkurs eine Lehre als Milchpraktiker bei Emmi in Dagmersellen, die er in diesem Jahr abschliessen wird. Beide sind sich einig: Die eritreisch-orthodoxe Gemeinschaft hat ihnen die Integration erleichtert, da sie in allen möglichen Situationen auf Unterstützung zählen konnten. Hilfreich war auch, dass bei Nuguse bereits die Mutter in der Schweiz weilte und bei Zaid der Bruder.

Die Religion spielte bereits in ihrem Heimatland eine grosse Rolle, wo sie regelmässig den Gottesdienst besuchten. Etwa die Hälfte von Eritreas Bevölkerung sind orthodoxe Christen. Es ist dies die jüngste orthodoxe Gemeinschaft, da sie erst 1998 mit der Abspaltung von der äthiopisch-orthodoxen Kirche entstand und sich nach der Inhaftierung ihres Patriarchen in zwei Richtungen aufteilte: Jene der Regimekritiker, welche seine Freilassung fordern, und der Regimetreuen. Nuguse und Zaid gehören zur regimekritischen Richtung, im Kanton Luzern umfasst sie rund 100 aktive Mitglieder.

Katholische Kirchgemeinde gewährt Gastrecht

Da sie über kein eigenes Gotteshaus verfügen, erhalten sie Gastrecht von der katholischen Kirche. In Luzern beispielsweise können die Gläubigen dreimal pro Woche die St. Karli-Kirche für ihren Gottesdienst in der Landessprache Tigrinya nutzen. «Die regelmässigen Zusammenkünfte geben uns viel Halt», sagt Ariam Nuguse. Gerade neu eintreffende Menschen aus Eritrea erfahren die Solidarität hautnah. So kommt es immer wieder vor, dass ihnen bei Übersetzungen, beim Verfassen von Briefen oder im Kontakt mit Behörden geholfen wird. Und wenn sich jemand das Busticket für den Gottesdienst in der St. Karli-Kirche nicht leisten kann, helfen die anderen aus.

Mengs Zaid spielt als Diakon eine zentrale Rolle in diesen Gottesdiensten. Besonders festlich geht es jeweils an Maria Empfängnis zu und her: Der Gottesdienst dauert dann von 20 Uhr bis am anderen Tag um 12 Uhr, es wird gegessen und gesungen, und die meisten tragen das charakteristisch weisse Gewand. Dann kommen Eritreerinnen und Eritreer auch aus anderen Kantonen angereist, so dass sich letzten November etwa 500 Menschen in der St.Karli-Kirche zu den Festlichkeiten mit Trommeln, Gesang und Essen versammelt hatten. Die Solidarität spielt aber nicht nur innerhalb der eritreisch-orthodoxen Religionsgemeinschaft.

Auch mit anderen Religionsgemeinschaften findet regelmässig ein Austausch statt. «Wir haben uns von Anfang an willkommen gefühlt und erfahren sehr viel Unterstützung», sagt Ariam Nuguse. Mengs Zaid erwähnt auch seinen Arbeitgeber, der auf den um eine Woche verschobenen Kalender der eritreisch-orthodoxen Glaubensgemeinschaft Rücksicht nimmt. So kann Zaid jeweils am Feiertag arbeiten, um dann eine Woche später frei zu nehmen, wenn der Feiertag gemäss dem eritreisch-orthodoxen Kalender stattfindet.

«Hier ist jeder mehr für sich»

Obwohl sich sowohl Nuguse als auch Zaid hier in der Schweiz willkommen fühlen, gibt es doch Dinge, die ihnen fehlen. «In unserer Heimat haben die Gemeinschaft und das soziale Leben eine grössere Rolle gespielt», berichten sie. Hier sei jeder mehr für sich, die Gemeinschaft werde nicht im selben Ausmass gepflegt. Umso wichtiger ist für die beiden die eritreisch-orthodoxe Glaubensgemeinschaft, die ihnen Halt und Orientierung gibt. Aber auch die katholische Kirchgemeinde, von der sie Gastrecht in der St. Karli-Kirche erhalten, hat ihnen die Integration erleichtert. «Wir erleben sie als sehr offen und hilfsbereit», so Nuguse.

Sorgenvoll aber beobachten sie, dass sich in der Schweiz die Praxis der Aufenthaltsrechtsbewilligung verschärft hat, dass es bedeutend länger dauert, bis ein Entscheid vorliegt, und dass Eritreer auch wieder in die Heimat zurückgeschickt werden. Denn der Friedensschluss zwischen Äthiopien und Eritrea habe für das Gros der Bevölkerung nicht viel geändert.

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