Diakonie / Freiwilligenarbeit

«Ich habe eigentlich kein Netzwerk mehr»

«Marianne» verdient wenig, der halbe Lohn geht für die Miete weg, sie hat Schulden und die Gesundheit ist angeschlagen. «Es sei ein Kampf», sagt die 63-Jährige. Eine solche Biografie sei typisch für Menschen in Armut, sagt eine Fachperson. Sie stellt Forderungen an die Politik.
Arme Menschen schämen sich oft für ihre Situation, ziehen sich zurück und werden so erst recht einsam. |© Gregor Gander

«Ich muss knapp durch. Für das 60-Prozent-Pensum als Pflegemitarbeiterin im Betagtenzentrum meiner Gemeinde erhalte ich 2800 Franken ausbezahlt. Davon gehen 1431 Franken für die Miete weg. Der Rest könnte eigentlich knapp für alles andere reichen. Aber ich muss immer wieder mit kaum mehr als 50 Franken durch den Monat. Bei der Krankenkasse bin ich ständig im Rückstand, ich stottere Schulden ab, und der dreizehnte Monatslohn geht sowieso direkt ans Betreibungsamt. Oder dann der Zahnarzt. Der sprengt mein Budget immer mal wieder. Meine Kieferknochen bilden sich zurück. Das ist vererbt. Und verursacht hohe Kosten.

Depressionen isolieren

Ich bin ein Heimkind, das drittälteste von elf Geschwistern. Gelernte Coiffeuse. Bis ich 56 war, ging alles mehr oder weniger gut. Doch dann wurde ich entlassen, fand lange keine neue Stelle und wurde ausgesteuert. Als vor fünf Jahren auch noch mein Partner starb, brach alles zusammen. Die Depressionen, an denen ich seit 30 Jahren leide, holten mich ein. Gleichzeitig musste und wollte ich für die Buben meiner einen Tochter da sein. In deren Familie sind Gewalt, Drogen und Alkohol ein Thema. Zum Glück läuft es dort inzwischen besser.

Weil ich kaum Geld habe, kann ich nur billig einkaufen. Klar. Und Ausflüge liegen nicht mehr drin. Wegen der Depressionen bleibe ich aber ohnehin am liebsten daheim. Ich fühle mich schnell unwohl unter Leuten. Mich einladen lassen? Lieber nicht. Wenn es am Arbeitsplatz etwas für die Mitarbeitenden gibt, melde ich mich immer ab. Dort weiss eigentlich niemand von meiner Situation. Ich würde mich schämen. Eigentlich habe ich kein Netzwerk mehr.

Lebensfreude wiedergewinnen


Bei der Sozialberatung der Kirche erhalte ich oft Hilfe. Oder bei Pro Senectute. Manchmal sitze ich in die nahe Kirche und zünde ein Kerzchen an. Mehr will und brauche ich nicht. Es ist ein Kampf. Aber ich will es allein schaffen und gebe nicht auf. Im kommenden Sommer werde ich pensioniert. Zur AHV sollte ich dann zusätzlich Ergänzungsleistungen erhalten. Ich hoffe, damit etwas mehr Luft zu erhalten. Vielleicht steigt damit auch meine Lebensfreude wieder.»

«Die Sozialhilfe ist ein Flickenteppich»

Die Biografie von «Marianne» sei typisch, sagt Fabian Saner: Teilzeitarbeit in einem Tieflohnberuf, ausgesteuert, gesundheitliche Probleme. «Finanzielle Armut tritt oft mit Einschränkungen in einem weiteren Lebensbereich auf», sagt der Historiker und Journalist, der bei Caritas Schweiz für den «Sozialalmanach» verantwortlich ist, ein sozialpolitisches Jahrbuch. 20 bis 40 Prozent der Armutsbetroffenen verzichteten auf Sozialleistungen, weil sie nicht von ihrem Anrecht wüssten, sich schämten oder negative Konsequenzen fürchteten. Es brauche deshalb mehr Informationen und niederschwellige Zugänge. Caritas fordert zudem, die Rückzahlungspflichten abzuschaffen: «Sozialhilfe darf kein Schuldenrisiko sein», sagt Saner. In der Bundesverfassung seien das Recht auf eine würdige Existenz und Hilfe in Not verankert.

Ein Problem ist für Caritas die Ungleichbehandlung von Personen in prekären Situationen je nach Gemeinde. Die Sozialhilfe sei «ein inakzeptabler föderalistischer Flickenteppich», sagt Saner. Sie müsse durch ein Rahmengesetz des Bundes über Existenzssicherung ersetzt werden, was «leider politisch aber eher utopisch» sei. 

Lebenswert

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