Pilotprojekt zur Geschichte des sexuellen Missbrauchs deckt 1002 Fälle auf

kath.ch/Annalena Müller | Dominik Thali

Jetzt ist der Bericht zum «Pilotprojekt zur Geschichte sexuellen Missbrauchs im Umfeld der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz seit Mitte des 20. Jahrhunderts» öffentlich. Die Historikerinnen und Historiker der Universität Zürich belegen 1002 Fälle, die Kleriker, kirchliche Angestellte und Ordensangehörige begangen haben. Der Bericht bildet die Grundlage für die weitere Forschung in den kommenden drei Jahren.
Renata Asal-Steger, RKZ-Präsidentin und Synodalrätin der Luzerner Landeskirche, und Bischof Joseph Bonnemain an der heutigen Medienkonferenz zum Schlussbericht der Pilotstudie in Zürich. | © Moritz Hager

Das Pilotprojekt ist im Auftrag der Schweizer Bischofskonferenz (SBK), der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz (RKZ) und der Konferenz der Ordensgemeinschaften und anderer Gemeinschaften des gottgeweihten Lebens (KOVOS) entstanden.

Die Forschenden der Universität Zürich hatten vollen Zugang zu den diözesanen Archiven. Kein Bistum hat gemauert, alle haben ihre Archive geöffnet. Keinen Zugang erhielt das Team allerdings zum Archiv der päpstlichen Nuntiatur in der Schweiz. Die Archive zeigen: Von der Mitte des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart war klerikaler Missbrauch auch in der Schweiz endemisch. Diese Erkenntnis ist wenig überraschend, aber sie ist deswegen nicht weniger erschütternd.

Zahlen, die erschüttern

1002 Fälle, 510 Beschuldigte und 921 Betroffene. Laut Historiker Lucas Federer dürften diese Zahlen «nur die Spitze des Eisbergs sein.» Denn die Arbeit des Teams hat erst begonnen. Die abschliessende Studie wird in drei Jahren vorliegen.

Schon jetzt ist klar: Die Schweiz ist kein Sonderfall. Die Zahlen sprechen eine klare Sprache, auch was die Altersstruktur der Betroffenen angeht. 74 Prozent der identifizierten Fälle betrafen den sexuellen Missbrauch an Minderjährigen – «von Säuglingen und vorpubertären Kindern bis hin zu postpubertären jungen Erwachsenen».

Die Zahlen werden noch steigen. Das Team hat erst angefangen, Akten der Diözesanarchive und Betroffenenorganisationen auszuwerten. Dokumente aus katholischen Fürsorgeinstitutionen wie Heimen und Schulen konnten noch nicht berücksichtigt werden. Auch Ordensgemeinschaften und Neue geistliche Gemeinschaften und Bewegungen haben ihre Archive bisher nur sehr begrenzt zugänglich gemacht.

«Den betroffenen Menschen wurde unbeschreibliches Leid zugefügt. »

Annegreth Bienz-Geisseler, Synodalratspräsidentin

Kultur des Wegschauens

Bereits die Vorstudie zeigt, was die Hauptstudie breiter untermauern dürfte. Während des Untersuchungszeitraums, der sich von den 1950er Jahren bis in die Gegenwart erstreckt, herrschte eine Kultur des Wegschauens. Anhand von Fallbeispielen zeigen die Forschenden, dass Bistümer ihre Priester selbst dann schützten, wenn diese von weltlichen Gerichten verurteilt wurden.

Ein Priester und sein langer Schatten

Ein solches Beispiel ist K.M. Der Priester wurde 1989 von einem Bündner Gericht wegen einer «Vielzahl an Übergriffen auf Buben» verurteilt. Berufliche Folgen hatte das Urteil für ihn keine. K. M. durfte weiter mit Jugendlichen arbeiten. Ein kirchliches Verfahren wurde nie eröffnet, obwohl die interne Kommunikation des Bistums zeigt, dass man sich der Probleme und Risiken bewusst war.

Systematische Vertuschung

Im Untersuchungszeitraum wurden kirchenrechtliche Strafverfahren systematisch vermieden. Die dahinterstehende Geisteshaltung zeigt sich im Brief eines Basler Domherren. Dieser schrieb 1968 an einen Beschuldigten: «Der Fall müsste nach Kirchenrecht nach Rom berichtet werden. Wir tun das gewöhnlich nicht, damit die Priester nach Verbüssung der Strafe leichter wieder irgendwo verwendet werden können.»

Diese Haltung änderte sich auch in späteren Jahrzehnten nicht. Der St. Galler Bischof Otmar Mäder (1976–1994) nutzte in den 1980er-Jahren die Androhung eines kirchenrechtlichen Prozesses als Disziplinierungsmassnahme. Das Forschungsteam fand aber keine Belege, dass auf die Drohung je Taten folgten.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Das Kirchenrecht verpflichtet den Ortsbischof seit 1917 zur kirchenstrafrechtlichen Untersuchung und Ahndung eines jeden Missbrauchsfall. Wie ihre Amtskollegen weltweit, haben die Schweizer Bischöfe das Kirchenrecht also wissentlich ignoriert. Auch hier haben Bischöfe die Täter geschützt.

«Ich bin dankbar, dass mit der Studie die Fälle erforscht und aufgeklärt werden.»

Hanspeter Wasmer, Bischofsvikar

Stellungnahmen aus dem Synodalrat und der Bistumsregionalleitung

Der Bericht zum «Pilotprojekt zur Geschichte sexuellen Missbrauchs im Umfeld der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz seit Mitte des 20. Jahrhunderts» gelangte erst mit der Präsentation am 12. September an die Öffentlichkeit. Für die katholische Kirche im Kanton Luzern nehmen Synodalratspräsidentin Annegreth Bienz-Geisseler und Bischofsvikar Hanspeter Wasmer dazu Stellung. Ihre Aussagen basieren auf den Informationen, die bis zur Veröffentlichung vorlagen.

Annegreth Bienz-Geisseler: Ich bin erschüttert. Den betroffenen Menschen wurde unbeschreibliches Leid zugefügt. Sie waren den Tätern schutzlos ausgeliefert. Sie wurden nicht gehört, nicht ernstgenommen. Hilfe und Unterstützung, die sie dringend gebraucht hätten, wurden ihnen verwehrt. Auch die Familien und das Umfeld der Menschen, die sexuellem Missbrauch ausgeliefert waren, litten. Sie wurden von der Kirche nicht ernst genommen. Deren Verhalten ist unentschuldbar.

Das darf in Zukunft nicht mehr vorkommen. Die Landeskirche und die Kirchgemeinden sind Anstellungsbehörden von kirchlichen Mitarbeitenden und tragen also Mitverantwortung. Wir werden genau hinschauen, was unsere Rolle, die Rolle der Landeskirche und der Kirchgemeinden, war.

Unsere Landeskirche hat sich in den letzten Jahren stark für Aufarbeitung und Prävention eingesetzt, zum Beispiel mit der Studie «Hinter Mauern», in der wir 2013 den Missbrauch von Verding- und Heimkindern in kirchlich geführten Erziehungsanstalten dokumentierten. Dem Thema Nähe und Distanz schenken wir bei Anstellungsgesprächen grosse Beachtung. Kirchliche Mitarbeitende wurden und werden dazu regelmässig geschult. Wir überprüfen unsere Prozesse und Abläufe weiter und setzen uns gemeinsam mit der Bistumsregionalleitung und dem Bistum ein, dass solche Verbrechen nicht mehr geschehen.

Hanspeter Wasmer: Für mich als Priester ist jeder Missbrauchsfall in der Kirche eine Abscheulichkeit. Ich verstehe nicht, wie Mitbrüder und andere Seelsorgende so etwas Menschen, vor allem Kindern und Jugendlichen, antun konnten.
Ich bin deshalb dankbar, dass mit der Studie die Fälle erforscht und aufgeklärt werden, und ich bin dankbar für die bereits eingeführten Präventionsmassnahmen, die schweizweit noch verbessert werden. Sie dienen dazu, dass so etwas möglichst nie mehr in der Kirche vorkommen kann. Dafür setze ich mich ebenfalls ein.

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