Menschen mit Behinderung

Mal anders gedacht: der behinderte Gott

Eine anstössige oder gar gotteslästerliche Aussage? «Der behinderte Gott» ist ein spannendes Gedankenexperiment, das die amerikanische Religionssoziologin Nancy L. Eiesland bereits 1994 in ihrem Buch vorgelegt hat. Was verändert sich, wenn wir Gott verletzlich denken?
«Auch Gott ist verletzt. Krater. Brüche. Narben. Behinderungen.» | © Gregor Gander

Vor zehn Jahren trat die Schweiz der UNO-Behindertenrechtskonvention bei. Es geht in dieser Übereinkunft um Grundrechte für Menschen mit Behinderungen. Und es geht darum, von den Erfahrungen und dem Wissen von Menschen mit Behinderungen zu lernen. Grund genug, mal theologisch zu beleuchten, was wir von Menschen mit Behinderungen über Gott lernen können. Ich bin der Ansicht, das ist eine ganze Menge! 
 

Gott als einer von uns

Nancy L. Eiesland wurde 1964 in North Dakota mit einer angeborenen Knochenkrankheit geboren, die sie später an den Rollstuhl fesselte. Sie war verheiratet und hatte eine Tochter. Bis zu ihrem Tod 2009 war sie an der Emory University als Professorin für Religionssoziologie tätig. In ihrer Theologie der Behinderung beschreibt Eiesland den Perspektivenwechsel weg von einem souveränen, perfekten Gott hin zu einem verletzlichen Gott. Ein Bild, das Menschen mit Behinderungen in besonderer Weise einlädt, sich zu identifizieren.  Bezugspunkt sind für sie die Auferstehungserzählungen. Der auferstandene Christus wird von seinen Freunden an seinen Wundmalen erkannt. Er legt sie nach der Auferstehung nicht einfach ab. Nein, sie sind sogar sein Erkennungszeichen: «Was seid ihr so bestürzt? […] Seht meine Hände und meine Füsse an: Ich bin es selbst.» (Lk 24,38f.)
 

Behinderung als Teil des Lebens

Gott ist verwundet. Hatte auch mit dem Schmerz zu schaffen. Das tröstet mich. In dieser Welt, die so verwundet ist. Auch Gott ist verletzt. Krater. Brüche. Narben. Behinderungen. Gott ist mitgenommen, nicht unbeeindruckt von unserem Leid. Stigmata werden diese Wundmale genannt. Genau diese Stigmata gehören zu Gottes Identität. 

Selbstermächtigung

Das ist die Stärke dieses Blickwinkels. Die körperliche Erfahrung von Menschen mit Behinderungen wird ernst genommen. Nancy Eiesland hatte eine angeborene Beeinträchtigung. Wie bei anderen Befreiungstheologien geht es hier um eine Innenperspektive aus einer persönlichen Betroffenheit heraus. Es sind Theologien, die zur Selbstermächtigung verhelfen. 

Sie lenken den Blick auf eine neue Art von Körperlichkeit. Behinderungen gehören zur Schöpfung. Sie sind keine Unvollkommenheiten. Die Erfahrung von Menschen mit Behinderungen zeigen unserer Welt eine Art «christliche Body Positivity»: Die Würde von unkonventionellen Körpern. 
Das Leben in Fülle steht uns allen zu! Das heisst nicht, alles wird gut und einfach. Aber es gibt die Erfahrung, dass selbst aus Wunden Wunderbares entstehen kann.

Darum ist «Der behinderte Gott» anstössig im besten Sinn. Ein  Anstoss und Wunsch für Kirche in dieser Welt: Dass sie sich verletzlich zeigen kann. Auf dass wir mit all den Begrenzungen, mit den Wunden und Narben, die das Leben in unsere Körper – und in unsere Seele – geschlagen hat, da stehen können – und Nähe finden. Menschliche Nähe, die nicht vor Behinderung zurückschreckt. Und Gottesnähe.
 

Nancy L. Eiesland: «Der behinderte Gott. Anstösse zu einer Befreiungstheologie der Behinderung», 2018 von Werner Schüssler auf Deutsch übersetzt, Echter-Verlag, ISBN 978-3-429-04427-5.

Lebenswert

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